6. Tag
Die Nacht war kalt
und kurz. Der warme Wind war schneidend kalt geworden und der Berg schien seine eigene, eisige Kälte auszustrahlen. Mahni
hatte Probleme, nicht wieder weggeweht zu werden. Sie wollte bei ihnen bleiben, denn sie hatte Lena ins Herz geschlossen und
war sogar bereit, Sotos Gesellschaft länger als unbedingt nötig zu ertragen. Außerdem mochte sie Abenteuer und dies hier schien
eines ganz nach ihrem Geschmack zu werden. Das Leben in der Oase war nämlich oft ziemlich langweilig. Den ganzen Tag singen
und tanzen war nichts für sie, deshalb hatte sie auch damals den Ausflug in den Nirgendswald unternommen. Die anderen Feen
wunderten sich über diese sonderbaren Eigenheiten, ließen sie deswegen aber in Ruhe. Schließlich waren es ja ihre Eigenheiten.
Trotz der gegebenen
Eile blieben sie nach dem Frühstück noch eine Weile zusammen sitzen und berieten, wie sie den Berg hinaufkommen sollten. Der
Falke und die Windfee konnten fliegen, aber was war mit den anderen? Sie konnten weder einen Pfad erkennen, noch die Höhle
sehen. Sie würden klettern müssen, ohne Seil oder irgendwelche Ausrüstung. Das war schwierig, denn Lena war keine Bergsteigerin
und Iss hatte nicht einmal Finger. Sie beschlossen, daß Sitan und Mahni erst einmal die Lage auskundschaften sollten, bevor
sie loskletterten. Es war unsinnig darauf los zu klettern um ein Stück weiter festzusitzen. Also flogen sie los, während die
anderen warteten. Die Nachrichten, die sie brachten, waren gut. Ein Stück weiter im Westen gab es einen Aufstieg. Nur an wenigen
Stellen würden sie klettern müssen, die meiste Zeit würde sogar Iss ohne Hilfe auskommen. Eine Höhle oder einen Eingang hatten
sie jedoch nicht gefunden.
So begannen sie
den Aufstieg mit gemischten Gefühlen. Sie wußten, daß sie ihrem Ziel nahe waren. Irgendwo in diesem Berg waren die vier Steine
der Winde. Aber auch Sosterat war dort. Sosterat, den noch nie einer von ihnen gesehen hatte, aber dessen Grausamkeiten sie
gesehen und erlebt hatten. Wie sollten sie ihn überwältigen, wie die Steine zurück erlangen? Sie wußten es nicht. Sie wußten
nur, daß sie es versuchen mußten. Das erste Stück des Aufstiegs war einfach. Zögernd kam die Sonne hervor und sie wären fast
gut gelaunt gewesen, aber die Nähe Sosterats ließ sie erschauern. Sie bewegten sich vorsichtig, vermieden jedes unnötige Geräusch
und sprachen nur, wenn es unbedingt sein mußte. Ihr Pfad verlief im Zickzack und oft war es schwer zu erkennen, wo er weiter
verlief. Die Windfee und der Falke taten ihr Bestes, um ihnen den Weg zu zeigen, aber je weiter sie kamen, desto schwieriger
wurde es. Oft mußten sie klettern und Lena trug dabei Iss in Sotos Tasche. Manchmal kam es auch vor, daß das Klettern sie
in die falsche Richtung geführt hatte und sie wieder hinabsteigen mußten, um einen anderen Weg zu finden. Bald schon waren
Lena und Soto von dieser Art zu wandern müde und außer Atem.
Laß uns eine kurze
Pause machen", flüsterte Soto. Gleich", meinte Lena. Laß uns noch auf diesen Absatz klettern, dann machen wir Pause. Etwa
zwei Meter über ihnen war eine kleine Plattform, von der aus der Pfad weiter ging. Die Plattform bot ein wenig Schutz vor
Wind und neugierigen Blicken und das schien ihnen in dieser Situation wichtig. Also sprang Iss in die Tasche und sie begannen
die Kletterpartie. Soto, der darin wesentlich behender war als Lena kletterte voran. Lena hatte es aufgegeben, mit ihm mithalten
zu wollen. Sie ließ sich Zeit und langsam kletterte sie hinauf. Oben gab Soto ihr die Hand und half ihr über den Rand der
Plattform. Als sie gerade ihre Beine über den Rand zog passierte das Schreckliche. Mit einem Knall riß der Riemen von Sotos
Tasche und Iss stürzte in die Tiefe. Lena griff in ihrer ersten Reaktion nach der Tasche, ohne sie zu erreichen und stürzte
ebenfalls. Sie fiel zurück auf den Pfad unterhalb der Plattform und rollte noch ein Stück den Hang herunter, wo sie benommen
liegenblieb. Der arme Iss hatte nicht soviel Glück. Er war nicht am Hang aufgekommen, sondern ein Stück weiter über eine Klippe
hinab gestürzt. Auch der Falke, der ihm nachgeschossen war konnte ihm nicht mehr helfen.
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Soto war wieder
hinab geklettert und half Lena auf. Entsetzt und benommen blieben sie unterhalb der Plattform sitzen, ungeachtet ob man sie
sah oder nicht. Lena blutete an der Stirn und den Armen, aber sie
spürte nichts. Immer
wieder hörte sie Iss Frage in der Ebene: Warum wirfsst du miss weg?" Langsam löste sich das Entsetzen. Tränen liefen ihr über
die Wangen. Sie weinte bitterlich und die anderen mit ihr. Der kleine Kerl hatte seinen Sumpf verlassen, um ihnen zu helfen
und um seine Freunde aus dem Sumpf
zu rächen. Nun würde
er sein Ziel nicht erreichen und niemals wieder in den Sumpf zurückkehren. Lange saßen sie da, ohne zu reden,. Lena begann
ihre eigenen Wunden zu spüren. Soto verband sie sauber. Lena ließ es einfach über sich ergehen, wortlos, ohne Reaktion. Plötzlich
sprang sie auf und begann erneut die Plattform zu ersteigen. Sie wollte den Berg bezwingen und Sosterat aufhalten. Für Iss!
Nun hatte Soto Probleme ihr zu folgen. Er war entmutigt. Er und Iss waren Freunde geworden und sein Tod war das Schlimmste,
was ihm in seinem ganzen langen Leben widerfahren war. Wo war noch Hoffnung, wenn Iss nicht mehr da war ? Was hatte es noch
für einen Sinn? Zweifel und Hoffnungslosigkeit kamen in ihm auf, schlimmer als je zuvor. Aber er folgte Lena, die sich den
Berg hinauf kämpfte. Sie wußte, irgendwo war die Höhle und sie würde sie finden.
Es war gegen späten
Nachmittag als sie nicht mehr weiterkamen. Ein kleines Stück über ihnen erhob sich der Gipfel, aber es gab keinen Pfad mehr
und es war zu steil zum klettern. Zumindest ohne Seil wollten sie es nicht versuchen, denn weder Lena noch Soto wollten das
Schicksal des armen Iss teilen. Außerdem hatte Lena das Gefühl, ihre Arme nicht mehr zu spüren. Wo keine der von Soto verbunden
Platz- und Schürfwunden waren, waren die Arme blau und grün und ihr linkes Handgelenk, auf das sie gefallen war schmerzte.
So saßen sie unterhalb des Gipfels und wußten nicht mehr weiter. Die Höhle war anscheinend wirklich ohne Ort, denn Mahni und
Sitan hatten den ganzen Tag keinen Hinweis auf sie entdecken können. Zu Hilfe kam ihnen wiederum der Zufall, falls es einer
war.
Sie saßen beim Abendessen
und besprachen, was sie tun wollten Bis Morgen Abend müssen wir die Steine haben, sonst war alles umsonst, alles", meinte
Lena. Ihre Wut und ihr Haß hatten einer tiefen Trauer und einem Gefühl unendlicher Leere Platz gemacht. Es sah so aus, als
würden sie kurz vor ihrem Ziel scheitern. Als schienen sie völlig gegensätzlich zu reagieren begann nun in Sotos Augen ein
Feuer zu glühen. Wir müssen diesen verfluchten Eingang finden und wenn es hundert Jahre dauert!", sagte er und meinte es genau
so. Wir werden noch einmal suchen, Sitan und ich", sagte Mahni. Vielleicht zeigt uns das Abendlicht auf dieser Seite etwas,
das wir bisher übersehen haben. Wenn nicht, wird uns das Morgenlicht auf der anderen Seite helfen." Sie stieg auf und tat
etwas, das viele hundert Jahre später zu einer Legende der Feen wurde. Sie küßte die verzweifelte Lena auf die Wange, um ihr
wieder Mut zu machen. Niemals zuvor und niemals wieder danach war so etwas geschehen, verlor Mahni mit dem Kuß doch ein Stück
ihrer Unsterblichkeit an Lena. Aber tatsächlich, Lena faßte wieder Mut und lächelte sogar ein wenig, als sie der Fee nachsah.
Mahni war noch nicht
weit gekommen, als ein heftiger Windstoß sie gegen den Fels warf und sie plötzlich verschwand. Die anderen waren aufgesprungen
und zu dem Felsen gerannt. Von Mahni war keine Spur zu sehen. Da hörten sie sehr gedämpft ihre Stimme. Kommt herein, geht
einfach durch den Felsen durch! Und tatsächlich, was aussah wie massiver Fels ließ sie hindurch in das Innere des Berges.
Sie hatten endlich den Eingang gefunden. Im Dämmerlicht sahen sie einen langen Gang, dem sie folgten. Nach einigen Schritten
hatte Lena Mühe voranzukommen, da sie in der Dunkelheit nichts sah. Der Waldgeist und die Fee sahen im Finsteren genauso gut
wie im hellen Tageslicht aber Lena tappt unsicher herum und stieß unentwegt irgendwo an. Als Mahni das sah fing sie an zu
lachen. Sie drehte sich in der Luft und begann, wie ein helles Licht zu leuchten. Besser so Lena?" Hervorragend", meinte diese
und lachte das erste mal seit dem Morgen wieder.
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Der Gang führte
ein gutes Stück in die Tiefe des Berges hinein und endete in einer großen Höhle. Mahni konnte sie nicht ganz erleuchten und
so gingen sie am Rand entlang. Am Eingang ließen sie eine der Provianttaschen als Markierung zurück, bei der sie kurz darauf
wieder ankamen. Der Gang hatte keine, Abzweigungen gehabt, die Höhle keine weiteren Ein- oder Ausgänge. Sie mußten also ihr
Ziel, die Höhle ohne Ort erreicht haben. Plötzlich gab es einen grellen Blitz und die Höhle wurde hell erleuchtet. In der
Mitte stand ein großer, ganz in einen schmutzigen Umhang gehüllter Mann. Er lachte
laut und kalt, so daß Lena und den anderen ein kalter Schauer über den Rücken lief Er warf seinen Umhang ab und Lena schrie
auf. Sosterat sah aus wie der Vater der Jahreszeiten, doch seine Augen waren kalt und grausam. In ihnen war nichts von der
Güte, der Wärme und der Weisheit des Vaters der Jahreszeiten zu sehen.
Willkommen Lena",
sagte er mit einer Stimme, die das Blut gerinnen ließ. Ich gebe zu, es ist nicht ganz so gemütlich wie bei diesem Stümper
im Berg der Zeit, aber in ein paar Jahren werdet ihr das nicht mehr merken." Lena erstarrte. Sosterat hatte die ganze Zeit
von ihrem Kommen gewußt, er hatte sie erwartet, um sie jetzt für immer hier zu behalten. Du hast es erfaßt!", meinte er zu
Lena, deren Gedanken er erriet. Meinst du, ihr wärt ohne meine Zustimmung bis hierher gekommen? Ich habe dafür gesorgt daß
ihr hierher kommt. Es ist nämlich als einfacher Mensch gar nicht so leicht, das Wetter zu beherrschen. Richtig, ich bin nur
ein Mensch. Ich habe das Vertrauen des Vaters der Jahreszeiten erlangt und ihm sein Wissen über das Wetter und seine Steine
gestohlen. Ich habe auch ein bißchen Magie erlernt, aber bei weitem nicht genug, um alles alleine zu machen Aber dafür habe
ich jetzt ja euch! Wollt ihr die Steine einmal sehen?", fragt er und holt sie aus einem Lederbeutel. Nur kurz blitzten sie
auf, dann verschloß er den Beutel wieder.
Lena sah Soto an
und sie hatten den selben Gedanken. Soto gab Sitan ein Zeichen und dieser flog mit einem Schrei auf den Ausgang zu. Als Sosterat
ihn an der Flucht hindern wollte sprangen sie auf ihn.
Mahni flog ihm ins
Gesicht und blendete ihn. Sosterat war so von sich eingenommen, daß er gar nicht auf die Idee kam, daß sie einfach so versuchen
würden, ihm die Steine abzunehmen. Das war sein Fehler. Lena trat und kratzte und Sitan stieß auf seinen Kopf hinab. Soto
biß ihm kräftig in Hand und schreiend ließ er den Beutel los. Plötzlich war Sosterat nur noch ein durchschnittlicher Mensch.
All sein Zauber war von den Steinen ausgegangen, die Soto nun in den Händen hielt. Er sah nicht einmal mehr wie der Vater
der Jahreszeiten aus und sein ganzes Gesicht war vom Haß entstellt. Es gab einen lauten Knall und sie fanden sich in der Ebene
wieder. Der Berg war mitsamt Sosterat verschwunden und über ihnen funkelten die Sterne des Winterhimmels. Sie lachten über
ihren Sieg, den sie auf eine so einfache Art errungen hatten. Lena hängte sich den Beutel um den Hals und steckte ihn unter
ihren Pulli. Erleichtert, wenn auch traurig über das Opfer, das ihr Sieg gekostet hatte schliefen sie ein und um sie herum
ruhten die vier Wind in der Ebene.