Lena lag im Gras
und sah hinauf in einen wolkenlosen Himmel. Es war wundervoll warm, aber es war so nicht richtig. Es war Mitte Dezember Es
müßte schneien und stürmen, bitterkalt sein, aber seit dem
Spätsommer spielte
das Wetter verrückt. Es war plötzlich kalt geworden, man sagte, der Sommer sei kurz gewesen und als es eine Woche später wieder
warm war> freute man sich. Dann jedoch, Anfang September waren Schnee- und Hagelstürme über das Land gezogen. Seit diesem
Tag war alles durcheinander. Frühlingssonne und Herbststürme, Sommerhitze und Winterkälte wechselten von Tag zu Tag, Ort zu
Ort. Lena hatte Shakespeares Sommernachtstraum gelesen, mittlerweile glaubte sie fast, Oberon und Titania seien erneut in
den Krieg gezogen.
Lena stand auf und
ging in Richtung des Waldrandes. Sie wollte spazieren gehen, schließlich wußte
niemand, ob es am
nächsten Tag einen Schneesturm geben würde. Im Wald war es kalt und Lena zog
ihren dicken Pulli
an, den sie jetzt immer dabei hatte. Als sie tiefer in den Wald kam, hörte sie plötzlich ein Stöhnen, sehr leise und schwach,
als ob jemand Hilfe brauche. Lena rief, ob da jemand sei. Als Antwort kam wieder ein Stöhnen, jetzt etwas lauter. Lena lief
in die Richtung , aus der es kam. Auf einer kleinen Lichtung lag ein alter Mann. Sein Haar war weiß, wie sein Bart und sein
Gewand, das Lena an einen Kaftan erinnerte, ,,Endlich", flüsterte der Mami, "endlich kommst Du." Lena war verwirrt. Geht es
Ihnen gut? Brauchen sie Hilfe? Was ist geschehen? ,,, stotterte sie. Ja", sagte der alte Mann leise, aber klar: Ich brauche
deine Hilfe Lena. Der Gebrauch ihres Namens erschreckte sie. Sie wollte weglaufen, besann sich dann jedoch, da sie sich fragte,
was ihr dieser alte Mann wohl antun könne. Wer sind sie und woher kennen sie meinen Namen?" Der alte Mann richtete sich auf
und sah ihr in die Augen. Dich kenne ich, weil ich deine Hilfe brauche, denn ich bin der Vater der Jahreszeiten. Ohne ein
Zeichen von Schwäche erhob er sich und ging in Richtung Wald Nach ein paar Schritten drehte er sich zu Lena um. ,,Komm mit
mir. Lena!"
Seit dem Morgen
lief Lena hinter dem Vater der Jahreszeiten her. Seit dem Gespräch auf der Lichtung waren sie schweigend durch den Wald gegangen.
Es hatte angefangen zu Regnen, Lena war naß und sie fror. Sie sagte dies dein Vater der Jahreszeiten und fragte, wohin sie
gingen. Als Antwort wies der Vater der Jahreszeiten auf einen Berg, der nun durch die Regenwand sichtbar geworden war. Es
war nicht mehr weit, aber Lena fragte sich, was sie dort wollten. Der Vater der Jahreszeiten ging unbeirrt auf eine Felswand
zu und war plötzlich verschwunden. Lena, die nur ein kleines Stück hinter ihm gewesen war, blieb erstaunt stehen. Dann sah
sie den Eingang einer Höhle> der versteckt war, bis man unmittelbar davor stand.
Sie trat ein und
stand in einem Felsensaal, der so riesig er auch war, durch unzählige Fackeln hell
erleuchtet war.
In der Mitte des Saales stand ein kunstvoll gearbeitetes hölzernes Rad, verziert mit
geheimnisvollen
Mustern und Zeichen. An den Stellen der vier Himmelsrichtungen befanden sich silberne Schalen, die jedoch leer waren. Vor
dem Rad brannte ein Feuer, bei dem der Vater der Jahreszeiten stand. Er sah Lena an und lächelte. ,,Willkommen im Berg der
Zeit, am Feuer des Lebens. Setz dich Lena, und hör, was ich dir zu erzählen habe." Lena kam zum Feuer und setzte sich. Es
war nicht zu sehen, was im Feuer brannte. Es rauchte nicht, es roch vielmehr nach Frühlingsblumen und reifen Sommerfrüchten,
hatte den herben Duft des herbstes und roch nach Schnee. Lena war verwirrt. Als der Vater der Jahreszeiten es sah, lächelte
er und begann zu erzählen. ,,Hier im Berg der Zeit steht seit Anbeginn das Rad des Jahres. In seinen vier Schalen liegen die
Steine der Winde. Seit Anbeginn der Zeit wache ich darüber, daß es in Bewegung bleibt. Zu jeder Sonnwende lege ich das nächste
halbe Jahr fest, lasse es Winter und Sommer werden, beschere Regen oder Hitze. Früher dankte man es mir jedesmal mit einem
Fest und aus der Freude der Menschen schöpfte ich meine Kraft. Doch die Menschen haben mich vergessen, sie danken nicht mehr
für das Jahr, mehr noch, das Wetter ist ihr Feind und so nahmen sie mir die Kraft, das Rad zu hüten und so konnte Sosterat
die Steine der Winde stehlen. Mächtig ist er jetzt, doch noch wirkt der Zauber des Mittsommers, noch mächtiger wird er werden,
wenn er die Steine voll beherrscht, denn wer würde dem widerstehen, der über Orkane, Dürren, Frost und Überschwemmungen herrscht? Lena war bleich geworden. Sie dachte daran, was
Sosterat bisher angerichtet hatte und was er noch anrichte konnte. ,,Du sagst, du brauchst meine Hilfe. Was kann ich tun?",
fragte sie. "Bist du nicht so vieles weiser und mächtiger? Wieso ich?"
Der Vater der Jahreszeiten
sah sie ernst an. ,,Du allein kannst gehen und die Steine zurückbringen. Hat der Berg der Zeit nicht dich hereingelassen,
wie noch keinen Menschen vor dir und nie einen nach dir? Du mußt gehen. Geh zum Berg ohne Namen und finde die Höhle ohne Ort.
Ich kann dir den Weg nicht sagen noch irgendwie helfen. Ich kann dir nur sagen, daß du dich beeilen mußt. Heute in sieben
Tagen ist Mittwinter. Wenn du die Steine bis dahin nicht hast, war alles umsonst. Ich wünsche dir viel Glück und gebe dir
Sitan mit. Die vier Winde kennen ihn, er wird dir helfen. Bis bald Lena!" Die Stimme des Vaters der Jahreszeiten war leiser
geworden, zuletzt nur noch ein Flüstern. Ein Falke flog durch die Höhle und setzte sich auf Lenas Schulter Sie sah zum Vater
der Jahreszeiten. Dieser saß unbeweglich am Feuer. Sein Gesicht war grau, seine Augen blickten leer in die Tiefe des Raumes.
Lena wußte mit einem mal, daß sie keine Wahl hatte. Sie sagte: ,,Bis bald!", und ging mit dem Falken, der sich an ihre Wange
schmiegte zum Ausgang der Höhle.
Draußen war es Nacht
geworden. Lena fror trotz des dicken Pullis. ,,Die Höhle ohne Ort. Weißt du, wo das ist?" Sitan plusterte sich auf und schüttelte
sein Gefieder. Wenn der Berg keinen Namen und die Höhle keinen Ort hatte, konnte Lena genauso gut geradeaus gehen. Wie spät
es wohl war? Lena wußte es nicht, sie hatte ihre Uhr Zuhause. Ob man sie schon vermißte? In Gedanken versunken ging Lena weiter,
wodurch ihr warm wurde. Lena wußte nicht einmal, wo sie war. Dieser Wald war nicht mehr der, indem sie morgens spazieren gegangen
war. Dieser Wald war klein gewesen, sie hätten schon mittags auf die Fernstraße treffen müssen. Sie waren jedoch zu einem
Berg gelangt, der auf keiner Karte verzeichnet war und nun lief sie durch einen Wald, den es hier gar nicht geben durfte.
Inzwischen regnete es wieder, Lena war naß, kalt, hungrig und müde. Sie bekam Angst. So hatte sie sich ihre Suche nicht vorgestellt.
Schließlich fand sie einen hohlen Baum und kroch hinein. Sie war erschöpft und fühlte sich einsam. Da erhob sich der Falke
und flog in die Nacht davon, was Lenas Gefühl noch verstärkte. Sie fing an zu weinen und schlief darüber ein.